OREST KAM BIS NACH USBEKISTAN

Von Renate Klett/ Frankfurter Allgemeine Zeitung / 08.04.2008

Ihn selbst haben Auftragskiller ermordet. Aber Mark Weils Ilkhom-Theater  im usbekischen Taschkent lebt: als die lebendigste, frechste Bühne des ferneren Ostens.

TASCHKENT, im April

Ein berühmter Regisseur, spätabends von der Generalprobe nach Hause kommend, wird vor seiner Wohnung von zwei Männern erwartet, die ihn mit gezielten Messerstichen angreifen – er stirbt wenige Stunden später im Krankenhaus. Die Kunde vom Mord verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der Stadt und in der westlichen Welt, wird aber von den offiziellen Medien des Landes tagelang verschwiegen. Die Premiere der “Orestie” findet wie geplant am 7. September 2007 statt, mit weinenden Schauspielern vor weinenden Zuschauern. Bis heute ist der Fall nicht aufgeklärt. Fest steht nur, dass der Mord von Berufskillern ausgeführt wurde. In wessen Auftrag, weiß niemand. Die Vermutungen reichen von Geheimdienst, Mafia und privatem Hintergrund bis zu islamistischen Fundamentalisten.

Mark Weil, russischer Jude aus Taschkent, war fünfundfünfzig Jahre alt, als er starb: eine Legende schon zu Lebzeiten, Gründer und Leiter des  Ilkhom-Theaters , das 1976 als erste unabhängige Bühne der Sowjetunion entstand und in den Theaterkreisen der sozialistischen Welt einen sagenhaften Ruf erwarb. Fernab im Osten, weit weg von Moskau, sei ein ganz neues Theater entstanden, spontan und aufmüpfig, untergrundhaft und überirdisch. Bis heute hat das  Ilkhom-Theater  die Aura des Besonderen bewahrt – es ist wie ein Magnet, Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle, immer ausverkauft, mit einem jungen, wachen Publikum. Als kürzlich die Taschkenter Kulturpreise vergeben wurden, erhielt das Haus sechs der dreizehn Auszeichnungen.

Weils Aufführungen sind frech, witzig, poetisch und sinnlich – lauter Eigenschaften, die im sowjetischen Theater der siebziger und achtziger Jahre nicht allzu verbreitet waren. Sie mischen lockere Clownssketche und Commedia dell’Arte mit Hochdramatischem und Provokativem. Weils Stil besteht aus der waghalsigen, ironischen Balance zwischen Hehrem und Profanem, sehnsüchtigen Verheißungen und lustvoll gesetzten Schockmomenten. Ein enfant terrible voller Ernsthaftigkeit, ein Tabubrecher, der den Finger in die Wunde legte und dann mit dem Hammer draufschlug, bis Wunde und Finger zerplatzten. Sein Theater handelte von Homosexualität und Spiritualität, von Freiheitsräuschen und dem Recht auf Schönheit, es zeigte die Perestrojka-Stücke, noch bevor sie in Moskau herauskamen – und die Publikumsdiskussionen glichen einer kollektiven Katharsis.

Als das  Ilkhom-Theater  (” Ilkhom ” heißt Inspiration) 1982 zum ersten Mal in Moskau gastierte, jubelte das Publikum, und die Kritik witterte Ungehöriges – auch in Taschkent trat nun der KGB auf den Plan und überwachte hinfort Theater wie Publikum. Aber der Ruhm war nicht mehr aufzuhalten, in der Gorbatschow-Ära wurde das  Ilkhom  zu einem Flagschiff der neuen Zeit. Der Westen wurde hellhörig, seit den späten neunziger Jahren gastierte es regelmäßig bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, später kamen New York und Tokio, Jerusalem, London und Wien hinzu. Derzeit befindet sich das Theater auf einer sechswöchigen Tournee durch die Vereinigten Staaten; im Juni wird es beim Festival “Theaterformen” in Braunschweig gastieren.

Das  Ilkhom  hat seine eigene Schauspielschule, zu deren Studenten momentan auch drei aus der Partnerstadt Seattle gehören, es veranstaltet regelmäßig Konzerte und Ausstellungen, stellt in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut neue deutsche Stücke in szenischen Lesungen vor und unterhält ein großes Repertoire von Weil-Inszenierungen. Das reicht von der Weltliteratur mit Shakespeare und Gozzi, Brecht und Albee bis zu dezidiert Lokalem, selbst geschriebenen oder in Auftrag gegebenen Stücken zur Gegenwart und Geschichte Zentralasiens.

Der vom Ensemble zum Interimsdirektor gewählte Schauspieler Boris Gafurov setzt auf junge Gastregisseure aus Russland und den eigenen Reihen. Natürlich ist Mark Weil, Motor, Herz und Hirn des Hauses, unersetzbar. Aber das  Ilkhom , das nach wie vor ohne öffentliche Subventionen auskommt und sich durch internationale Koproduktionen, Tourneen und Sponsoren über Wasser hält, ist zu wichtig für die Stadt, um es aufzugeben. Der Geist aber, der das Haus durchweht, ist voller Energie und Arbeitslust.

Diese Vitalität trägt auch die Aufführungen. Die berühmteste und vielleicht schönste, “Weißer weißer Schwarzer Storch” nach Erzählungen des usbekischen Autors Abdulla Kadyn, ist eine umgekehrte Romeo-und-Julia-Geschichte, bei der die Eltern ihre Kinder zusammenzwingen, sich dann verfeinden und eine Tragödie auslösen. Mahzum, der den Störchen nachträumt und Gedichte schreibt, ist ein Außenseiter und erregt dadurch den Zorn seines Vaters. Als man den Koranschüler bei einer zärtlichen Balgerei mit einem anderen Jungen erwischt, entstehen Gerüchte. Schnell wird er mit der Nachbarstochter Mohichekhra verheiratet. Die Kinder werden von ihren Eltern geopfert, von den einen, um den Ruf zu retten, von den anderen, um am erhöhten Brautgeld zu verdienen. Dem Druck halten die beiden nicht stand: Sie verspottet ihn, er schlägt sie, ihr Leben ist bald auf immer zerstört.

Weils Inszenierung zeigt die Verletzlichkeit der Jungen und die Bosheit der Alten mit trauernder Resignation statt mit Anklage, das macht sie um so berührender. Und sie zeigt, dass Täter auch Opfer sein können (die Mütter), dass ein Mord (an dem Mädchen) geschehen kann, ohne dass jemand ihn gewollt hat. Natürlich sind “die Verhältnisse” schuld, aber eben auch die Menschen, die sie ausnutzen. Die leise Tragödie geht über die muslimische Welt hinaus und wird zu einer universellen Parabel für Zwang und Unterdrückung.

Auch “Flüge des Mashrab” ist eine Auseinandersetzung mit muslimischen Traditionen, diesmal in Form eines bunten Jahrmarktspektakels, das den legendären Sufi-Poeten Mashrab wie einen orientalischen Till Eulenspiegel durch die Welt schickt. Der heilige Narr schwebt durch himmlische und irdische Sphären, zwischen Gottessuche und Verdauungsproblemen, und er gewinnt beidem etwas Gutes ab. Es ist ein respektloses, überdrehtes Volkstheater, das den Derwisch, den der König aufhängen lässt, als philosophischen Spötter für die Nachwelt verklärt.

“Ekstase mit Granatapfel” ist der Titel eines Gemäldes von Aleksandr Nikolajew, der sich Usto Mumin nannte. Weils gleichnamiges Stück, seine vorletzte Arbeit, variiert die Biographie des von Anton Pakhomov eindringlich gespielten Künstlers. Dieser kommt als Militärzeichner mit der Armee des Zaren 1916 ins eroberte Zentralasien und wechselt alsbald die Seiten. Es ist die Suche nach der verlorenen Zeit in einem mythischen Taschkent. Nikolajew verfällt den Verführungen des Orients, der Schönheit der Gärten und der Bacha-Tänzer in den Teehäusern, seiner Sehnsucht nach jungen Männern und ihrer Sublimierung durch religiöse Ekstase.

Das für Usbekistan recht gewagte Stück spricht so unverblümt von den verdrängten Traditionen und Gefühlen, dass manche darin die Ursache für Weils Ermordung sehen. Homosexualität ist ein Tabu in dieser Gesellschaft, sie gar mit dem Islam in Verbindung zu bringen ein gewaltiger Frevel. Poesie und Sarkasmus, Melancholie und eine Prise Kitsch, Inbrunst und Ironie verschmelzen im Bild eines Orients, dessen Geheimnisse bis heute angstbesetzt sind. “Die verbotenen Früchte sind süß”, sagt Usto Mumin, der demütige Meister, “habe keine Angst, sie zu pflücken.”

Beim Großprojekt der “Orestie”, seiner unerwartet letzten Arbeit, kommt dem Regisseur im Übermaß seiner Erzählformen und Theatermittel mitunter die Stringenz abhanden in all den Musiknummern und Videokommentaren, Zeitbrüchen, Medienspielen und ständigen Perspektivwechseln – wahrscheinlich hätte Weil nach der Premiere noch einiges daran verändert. Immer wieder aber gelingen ihm eindrucksvolle, zeitlose Bilder: wenn Agamemnon über die ihm zu Füßen liegende Klytaimnestra hinwegschreitet und ihre meterlange Kleiderschleppe zum Begrüßungsteppich wird. Als sie zu ihm in die Badewanne steigt, ihn wäscht wie ein Kind – später wird sie Orest genauso waschen, bevor er sie tötet -, erscheint ihr Aigist wie in einem Traum, sie lieben sich, und aus der Erregung heraus sticht sie wie besessen auf Agamemnon ein. Olga Volodina als Klytaimnestra ist eine leidenschaftliche Frau, die ihre Liebe lebt, eine Mutter, die ihre Tochter rächt, eine Bedrohte, die um ihr Leben kämpft.

Nach der Pause liegt auf jedem Zuschauersitz ein schwarzer Stein: Nicht der Areopag entscheidet über den angeklagten Orest, sondern das Publikum. Zweiundsiebzig zu fünfundsechzig Stimmen zu Orests Gunsten lautet das Ergebnis an diesem Abend: Orest ist von den Erinnyen befreit, die neue Zeit, die Demokratie, hat gesiegt. Aber der Skeptiker Weil glaubt der Vergebung nicht und lässt Orest aus der anonymen Menge heraus ermorden. Da spiegeln sich Theater und Realität auf gespenstisch prophetische Weise. Als hätte er geahnt, was ihn erwartet, scheint es, als würde Weil seine Mörder zu zynischen Manipulatoren des alten Mythos erklären.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

Bildunterschrift: Am Brandherd der Urgeschichte des menschlichen Dramas aus Fluch, Mord und Totschlag: Olga Volodina als Klytaimnestra inhaliert in Mark Weils Fassung der “Orestie” des Aischylos im  Ilkhom Theater die Hitze der Gegenwart.